Psychiater dürfen während der Corona-Krise unbeschränkt mit ihren Patienten telefonieren, psychologische Psychotherapeuten hingegen nicht.
Dadurch könnte sich die Not psychisch Kranker noch verschärfen. Auf Alain Berset sind die Psychologen schon länger nicht gut zu sprechen. Der Gesundheitsminister hat bisher wenig unternommen, um ihre zentrale Forderung umzusetzen: Psychotherapeuten mit Abschluss in Psychologie sollen eigene Praxen gründen und direkt mit den Krankenkassen abrechnen dürfen. Derzeit müssen sie sich von einem Psychiater anstellen lassen, wenn sie Gelder aus der Grundversicherung wollen. Dadurch sehen sich manche Psychologen zu Handlangern degradiert.
120 Minuten mehr für Telefonate
Neu dürfen sie über sechs Monate hinweg pro Patient 360 statt normalerweise 240 Minuten für Telefongespräche abrechnen. Das reiche nicht, finden die Psychologen – und haben ihren Protest auch in einem Brief an Berset formuliert. Die Anpassung sei nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein, monieren die Spitzen von drei Psychologenverbänden in dem Schreiben. Zur Veranschaulichung: Wenn Psychologen bisherige oder neue Patienten mit wöchentlichen Therapiegesprächen à 60 Minuten betreuen wollen, ist das Kontingent nach sechs Wochen aufgebraucht. Viele Therapeuten haben jedoch schon Anfang März auf Telefontherapie umgestellt, und bis zum Ende des Lockdowns dauert es noch.
Dem Entscheid des Bundesrates fehle die Sachlogik, schreiben die Psychologenverbände. Denn darunter litten in erster Linie die vielen Patienten von psychologischen Psychotherapeuten. Laut dem Helsana-Bericht 2019 absolvieren je nach Kanton 40 bis 80 Prozent der Patienten ihre Psychotherapien bei Psychologen. Es dürfe nicht sein, dass diese Menschen gegenüber den Patienten, die bei Psychiatern in Behandlung seien, derart diskriminiert würden, finden die Verbände. «Viele dieser Patienten gehören schliesslich zu einer Risikogruppe und sollten, wenn immer möglich, zu Hause bleiben.»
«Gefahr von Selbstverletzungen»
In einem eigenen Communiqué führt der Schweizerische Berufsverband für angewandte Psychologie (SBAP) aus, aus welchen Gründen er negative Auswirkungen des bundesrätlichen Entscheids befürchtet: «Für Angst- und Zwangspatienten steigt die Gefahr von Selbstverletzungen – ausgelöst durch die Corona-Situation, aber auch durch ungünstige Abrechnungsbedingungen.» Es drohten für die Patienten auch nach der Aufhebung des Shutdowns massive Einschränkungen. «Von Erfahrungen aus anderen Krisenzeiten kennen wir unter anderem die Zunahme der Sucht- und Trauma-Erkrankungen sowie das steigende Gewaltpotenzial, dem wir durch unbürokratische, direkte psychologisch-psychotherapeutische Unterstützung entgegenwirken können.»
Zusammen mit den beiden anderen Verbänden fordert der SBAP deshalb im Brief an Berset, dass dieser seinen Entscheid schnellstmöglich korrigiert. Beim BAG sieht man dafür aber keinen Anlass, wie Sprecher Jonas Montani auf Anfrage festhält. Er erinnert daran, dass es auch weiterhin möglich sei, in dringlichen Fällen Leistungserbringer in ihrer Praxis aufzusuchen. «Somit können dringliche Psychotherapien wie bis anhin weiterhin beim Leistungserbringer durchgeführt werden.» Ausserdem sei es gut möglich, die zur Verfügung stehenden 360 Minuten für die Ferntherapie am Anfang stärker zu beanspruchen, mit der Annahme, dass später vermehrt wieder Therapien in der Praxis erfolgen könnten.
Den Vorwurf mancher Psychologen, das BAG nehme die Probleme von Patienten in akuten Krisen oder gar mit suizidalen Absichten nicht genügend ernst, weist Montani zurück. Aus diesen Gründen gebe es ja insgesamt eine Erweiterung des Behandlungsangebotes für Patienten mit psychischen Krankheiten, betont er. Und versetzt den Psychologen einen Seitenhieb: «Sehr oft betreuen gerade Psychiater und ärztliche Psychotherapeuten bereits jetzt die komplexeren Fälle. Die Ausweitung bei den Psychiatern und den ärztlichen Psychotherapeuten zielt also auch darauf ab, den Zugang für komplexere Fälle sicherzustellen.»
Pochen auf Selbständigkeit
Auch mit ihrer zweiten Forderung dürften die Psychologen bei Berset kaum offene Türen einrennen. Sie möchten, dass der von ihnen angestrebte Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell bereits in der Corona-Krise erfolgen soll. Das würde bedeuten, dass es nur noch eine ärztliche Überweisung von Patienten an psychologische Psychotherapeuten brauchte. Diese könnten frei praktizieren und müssten sich nicht mehr von einem Arzt anstellen lassen. Weil nicht alle Psychiater bereit sind, delegierte Psychologen zu beschäftigen, gibt es derzeit eine künstliche Verknappung des therapeutischen Angebots.
Entsprechend könnte ein rascher Systemwechsel aus Sicht der Psychologenverbände die «drohenden Engpässe» beheben. Dies vor allem auch vor dem Hintergrund, dass psychiatrische Kliniken ihr Angebot zurzeit auf das Minimum reduzieren würden, obwohl die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung wegen der Krise voraussichtlich steigen werde. «Die Psychiaterinnen und Psychiater allein werden diesen Bedarf nicht abdecken können.»
NZZ 09.04.2020