NZZ/von Simon Hehli/5.6.2015
Die Grundversicherung soll künftig die Behandlung von Menschen in seelischer Not bezahlen. Die Krankenkassen warnen vor einem Kostenschub.
Die Therapiecouch ruft: Laut Bundesamt für Statistik verspürt pro Jahr jeder zehnte Schweizer das Bedürfnis, einen Psychiater oder Psychotherapeuten aufzusuchen. Doch nur die Hälfte davon begibt sich wirklich in Behandlung. Die Suizidrate bleibt hierzulande – trotz einer deutlichen Abnahme seit den achtziger Jahren – im europäischen Vergleich hoch. Experten konstatieren eine Unterversorgung für Menschen in seelischen Nöten. Das Problem liege aber nicht darin, dass es in der Schweiz zu wenige Psychotherapeuten gebe, sagt Thomas Merki, früherer Präsident des Schweizer Psychotherapeutenverbandes (SPV). Der Knackpunkt seien vielmehr die hohen Hürden, die sich den Psychotherapeuten bei der Berufsausübung in den Weg stellten.
Grosse Freiheit versprochen
Psychotherapeuten – also Fachpersonen mit einem Abschluss in Psychologie, nicht in Medizin – erhalten ihre Leistungen heute nur dann von der Grundversicherung vergütet, wenn sie «delegiert» arbeiten. Das heisst, sie sind bei einem speziell qualifizierten Arzt angestellt und stehen unter dessen Aufsicht. Es ist der Arzt, der letztlich die Verantwortung trägt und auch die Leistungen den Krankenkassen in Rechnung stellt. Rund 40 Prozent der Psychotherapeuten arbeiten laut einer Studie ganz oder teilweise «delegiert». 35 Prozent hingegen sind völlig selbständig. Ihre Patienten müssen die Therapien aus der eigenen Tasche berappen, sofern sie keine Zusatzversicherung haben. «Dieser Zustand ist unerträglich», sagt Thomas Merki. «Alle Patienten sollten einen ungehinderten Zugang zu kompetenten psychotherapeutischen Leistungen haben.» Die heutige Regelung widerspreche auch dem Selbstverständnis der selbständigen Psychotherapeuten: Sie sehen sich nicht als blosse Handlanger der Ärzteschaft.
Die damalige Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss versprach den Psychotherapeuten bereits Anfang der neunziger Jahre die grosse Freiheit: Sie sollten als selbständige Leistungserbringer gegenüber den Krankenkassen abrechnen können, sobald Fragen der Aus- und Weiterbildung geklärt seien. Das Delegationsmodell war nur als Übergangslösung gedacht – die nun eigentlich hinfällig ist. Denn seit April 2013 ist das Psychologieberufegesetz in Kraft. Es regelt, welche Voraussetzungen ein Psychotherapeut mitbringen muss: einen Hochschulabschluss auf Masterstufe in Psychologie sowie einen eidgenössischen Titel für eine Weiterbildung von mindestens zwei Jahren.
Arzt soll Therapie anordnen
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schreibt auf Anfrage, es sei derzeit daran, zuhanden von Bundesrat Alain Berset einen «differenzierten Lösungsvorschlag» auszuarbeiten. Bis dieser in konkreter Form vorliegt, dürften noch einige Wochen bis Monate verstreichen; das Dossier hat dem Vernehmen nach BAG-intern an Fahrt verloren. Wie mehrere bei den Beratungen involvierte Verbände übereinstimmend bestätigen, ist die von Dreifuss versprochene Lösung jedoch so gut wie vom Tisch. Das BAG will die Psychotherapeuten nämlich nicht völlig von der Leine lassen: Sie könnten zwar selbständig tätig sein, doch müsste künftig ein Arzt die Therapie verschreiben, damit die Grundversicherung dafür aufkommt. Dieses «Anordnungsmodell» entspräche ungefähr dem System bei den Physio- oder Ergotherapeuten.
Für Thomas Merki handelt es sich dabei um eine Lösung nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach». Auch die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) gäbe sich mit dem Anordnungsmodell zufrieden: «Dieses ist derzeit die konsensfähigste Lösung und verspricht eine rasche Verbesserung der Versorgungslage», sagt FSP-Geschäftsleiter Andreas Moosmann. Damit liessen sich auch die Folgekosten psychischer Krankheiten reduzieren und Arbeitgeber und Sozialversicherungen entlasten.
Trotz einigen Bedenken vonseiten der Psychiater, die Angst vor einem Kontrollverlust haben, stellt sich auch der Ärzteverband FMH hinter das Anordnungsmodell. Fernab der Zentren mangle es deutlich an verordnenden Psychiatern, weshalb die psychotherapeutische Versorgung ohne die Neuregelung auch weiterhin nicht gewährleistet sei, argumentiert FMH-Vorstands-Mitglied und Psychiaterin Christine Romann. Mögliche Kostensteigerungen nimmt Romann in Kauf: «Wir sprechen hier nicht von Luxuslösungen.» Für derzeit politisch nicht durchsetzbar hält Romann hingegen die Idee, dass Psychotherapeuten wie Ärzte oder Hebammen frei mit den Kassen abrechnen können.
Genau dies bezeichnet jedoch die Gesellschaft delegiert arbeitender Psychotherapeuten (Gedap) als «längst überfällig». «Wir sind nicht dafür, dass das psychotherapeutisch Sinnvolle dem politisch Machbaren geopfert wird», sagt Gedap-Präsident Rainer Glauser. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso jemand mit psychischen Problemen zuerst zum Hausarzt gehen müsse statt direkt zum kompetenteren Psychotherapeuten. «Die Anordnungslösung ist kein Kooperationsmodell gleichwertiger Partner, und sie erhöht bloss den administrativen Aufwand, ohne dass die Patienten einen Nutzen haben.» Weil die Weiterführung einer begonnenen Therapie vom Wohlwollen des Arztes abhängig sei, erhöhe sich zudem die Unsicherheit für den Patienten.
Mengenausweitung befürchtet
Für den Status quo kämpft hingegen der Krankenkassenverband Santésuisse. Das Anordnungsmodell würde zu einer Mengenausweitung und damit zu einem «erheblichen Kostenschub in der Grundversicherung» führen, mahnt Santésuisse-Vertreterin Sandra Kobelt. Dafür sieht sie mehrere Gründe. So mache eine Neuregelung den Beruf des Psychotherapeuten attraktiver, weil das «demütigende Konstrukt der delegierten Psychotherapie» wegfiele. In den letzten Jahren hätten sowohl die Anzahl von Psychologiestudenten an den Universitäten als auch die Zahl der Diagnosen psychischer Krankheiten stark zugenommen, sagt Kobelt. Santésuisse befürchtet zudem, dass sich die Tarife für Psychotherapeuten jenen der Psychiater angleichen würden. Letztere können bis zu 240 Franken pro Stunde verrechnen – in der delegierten Psychotherapie sind es heute maximal 140 Franken.